Wer dieser Tage, im August 2017, auf den Strandpromenaden der belgischen Stadt Oostende oder des angrenzenden Dünkirchens spazieren geht, sieht sich mit Ereignissen des ersten und zweiten Weltkrieges konfrontiert. Auf zahlreichen Hinweistafeln sowie Informationspavillons wird an die Flandernschlacht 1917 und die Evakuierung der britischen Expeditionsstreitkräfte im Jahr 1940 erinnert.

Die Geschichte könnte uns einholen

In der Operation „Dynamo“ wurden im Frühsommer 1940 die militärisch geschlagenen britischen und französischen Streitkräfte von den Stränden Dünkirchens aus, unter dem Schutz der britischen Marine, nach England verbracht. Dabei sei eher am Rande angemerkt, dass keine Graffitis Gedenkplätze oder Beschilderungen verunstalten.

Das ist lange her und hat keine Bedeutung mehr für die Gegenwart mag man hierzulande denken. Und ein Bezug zur persönlichen Lebenssituation - beispielsweise zur Altersvorsorge und Rente sowie dem finanziellen Schutz bei Erkrankung besteht schon gar nicht.

Ist dem wirklich so? Der geneigte Leser stimmt dem Autor vielleicht zu, dass sich die politischen Verhältnisse innerhalb eines Jahres vollkommen ändern können. Als positives Beispiel hierfür sei an die Wendezeit im Jahr 1989 in der ehemaligen DDR erinnert. Beide Weltkriege waren wesentlich vom Konflikt zwischen England und Deutschland geprägt. Hierzu ein Zitat:

Was wir im deutschen Widerstand während des Krieges nicht wirklich begreifen wollten, haben wir nachträglich vollends gelernt: dass der Krieg schließlich nicht gegen Hitler, sondern gegen Deutschland geführt wurde”. (Eugen Gerstenmaier, Bundestagspräsident ab 1954, während des zweiten Weltkrieges Mitglied der „Bekennenden Kirche“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. März 1975).

Deutsche können übergeordnete Interessen Großbritanniens nur schwer erfassen

Wohl unstreitig ist, dass es über Jahrhunderte hinweg Englands Bestreben war, die sogenannte „Balance of Power“ (Gleichgewicht der Kräfte) zu wahren. Dieses Grundprinzip britischer Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik besagt, dass die Vorherrschaft einer anderen Macht auf dem europäischen Festland nicht geduldet wird.

Durch geschickte Diplomatie gelang es den Briten Alliierte zu finden, um beispielsweise die spanischen Könige, das napoleonische Frankreich und das wilhelminische deutsche Kaiserreich niederzuringen.

In Deutschland existierten in den zurückliegenden einhundert Jahren verschiedenste Staatsformen: das Kaiserreich bis 1918, anschließend die Weimarer Republik und der Hitlerfaschismus, nachfolgend sogar zwei Deutschlands mit demokratischer und kommunistischer Gesellschaftsordnung.

Diese politischen Wirren mögen mit dazu beigetragen haben, dass die heutigen Deutschen in ihrer „freiwilligen Servilität“ (Stefan Zweig - österreichischer Autor) die übergeordneten Interessen einer jahrhundertealten See- und Wirtschaftsmacht gedanklich nur schwer zu erfassen vermögen.

Geschichtsvergessenheit ist zumindest insoweit nachteilig, als dass der Blick darauf versperrt ist, mit welchen Methoden die dem angelsächsischen Kulturkreis zugehörigen Nationen vorgegangen sind, um die Welt zu kolonialisieren - sprich sich Untertan zu machen. Bürgerkriege, Invasionen, Revolutionen, Eroberungen, Hungersnöte berühren nur die Oberfläche. England hat das Gefüge ganzer Staaten, wie beispielsweise in Indien, niedergerissen (vgl. Karl Marx - Die britische Herrschaft in Indien).

Brexit: Wie lebendig ist die „Balance of Power“-Doktrin?

Die englische parlamentarische Demokratie besteht bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Nicht zuletzt unter dieser wurde England zur Weltmacht und London bis heute zum mitführenden Bank- und Finanzzentrum.

Wo steht geschrieben, dass nach vielen Jahrhunderten die „Balance of Power“ heute keine Bedeutung mehr hat? Insoweit wird man davon auszugehen haben, dass eine gewisse historisch begründete Kontinuität das britische politische Handeln bis in die Gegenwart prägt.

England hat zwei Weltkriege gegen die europäische Vormacht Deutschland geführt. Am 03. September 1939 gemeinsam mit Frankreich Deutschland den Krieg erklärt. Ist es realistisch, davon auszugehen, dass England eine Vormacht Deutschland, und sei es im Gewand der Europäischen Union, akzeptiert?

Interessenkollisionen sind vorprogrammiert

Tatsache ist jedenfalls, dass die Briten mit ihrem Brexit-Entscheid einen eigenen Weg, heraus aus der Europäischen Union, gewählt haben. England vertritt seine Interessen. Wohl zwangsläufig werden diese mit Bestrebungen der Europäischen Gemeinschaft und deren deutscher Vormacht kollidieren.

Gäbe es keinen gravierenden Gegensätze, hätte England auch in der EU verbleiben können. Die Balance of Power besagte, wie bereits erwähnt, auch, dass England sich mit anderen Staaten gegen die dominierende europäische Festlandsmacht verbündete.

Stehen die Verbündeten im Sinne des Gleichgewichts der Kräfte schon parat?

Bereits heute ist in der Diskussion, dass auch andere Staaten, und damit ist nicht nur das schwächelnde Griechenland gemeint, aus der europäischen Union austreten könnten. Man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass von den Ergebnissen der britischen Austrittsverhandlungen auch eine Signalwirkung ausgeht. Weitere europäische Staaten werden prüfen, ob die Modalitäten der Austrittsvereinbarungen auch für sie attraktiv sind.

Bricht jedoch die Europäische (Währungs)union auseinander, wird dies kaum vorstellbare Auswirkungen insbesondere für Deutschland haben. Eben auch für jeden Einzelnen - beispielsweise für Rente, Alterssicherung und Krankenversicherungsschutz.

Denn diese sind nur so lange zahlbar, wie das Land zahlungsfähig ist. Die Balance of Power jedenfalls wäre gewahrt. Und wem Belgier und Franzosen zuneigen, dass zeigen die Hinweisschilder auf den Strandpromenaden von Oostende sowie Dünkirchen. Machen wir uns nichts vor. Die aktuelle deutsche Politik ist in Europa keineswegs unumstritten.

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